von Melissa Celmeur

Trauma Bonding: Warum Opfer toxischer Beziehungen oft bleiben

Zwei Menschen halten sich an den Händen, während beide Handgelenke mit halbtransparenten Handschellen verbunden sind

„Warum gehst du nicht einfach?" Diese Frage hören Menschen in destruktiven Partnerschaften immer wieder. Und oft fragen sich die Betroffenen das sogar selbst. Aber wer die Frage stellt, versteht meist die komplexen psychologischen Mechanismen nicht, die Betroffene in ungesunden, toxischen Beziehungen festhalten. Einer der mächtigsten dieser Mechanismen ist das Trauma Bonding – eine paradoxe emotionale Bindung, die gerade durch Verletzung und Missbrauch entsteht und stärker sein kann als jede rationale Einsicht.

Die unsichtbaren Fesseln einer toxischen Beziehung

In einer toxischen Beziehung erleben Betroffene einen zermürbenden Wechsel zwischen intensiver Zuwendung und abrupter Ablehnung. Der Partner zeigt sich zunächst liebevoll und aufmerksam, nur um dann plötzlich distanziert, kritisch oder gar aggressiv zu werden. Dieser unvorhersehbare Wechsel kann beim Partner irrationale Reaktionen auslösen, die im Muster einer Sucht ähnlich sind: Die seltenen Momente der Wärme werden zur begehrten „Belohnung", nach der sich die Betroffenen zunehmend sehnen.

Das Perfide beim Trauma Bonding ist, dass je unberechenbarer diese positiven Momente auftreten, desto stärker wird die emotionale Abhängigkeit. Psychologen vergleichen dieses Phänomen mit dem sogenannten intermittierenden Verstärkungsprinzip – einer der wirksamsten Formen der Konditionierung überhaupt. Die betroffene Person beginnt, ihr gesamtes Verhalten darauf auszurichten, die guten Momente herbeizuführen und die schlechten zu vermeiden. Dabei verliert sie zunehmend den Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen und Grenzen.

Trauma Bonding: die Anzeichen erkennen

Beim typischen Trauma Bonding sind die Anzeichen oft subtil und werden von Außenstehenden leicht übersehen. Betroffene verteidigen den Partner trotz offensichtlicher Missstände vehement und finden immer wieder Erklärungen für sein destruktives Verhalten. Sie verharmlosen eigene Verletzungen und übernehmen die Verantwortung für Konflikte, selbst wenn sie eindeutig nicht die Verursacher sind.

Darüber hinaus ist Trauma Bonding an den Anzeichen festzumachen, dass Menschen mehrfach versuchen, die Beziehung zu beenden, dann aber immer wieder zurückkehren. Die Trennung löst eine Art Entzugserscheinung aus – Panikattacken, Schlafstörungen und obsessive Gedanken an den Partner sind keine Seltenheit. Diese körperlichen und emotionalen Reaktionen werden von den Betroffenen oft fälschlicherweise als Beweis für „wahre Liebe" interpretiert.

Charakteristisch sind auch die ständigen Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Betroffene fragen sich: „Bin ich zu empfindlich? Übertreibe ich?" Diese Selbstzweifel werden durch manipulative Taktiken wie Gaslighting systematisch verstärkt. Der toxische Partner verzerrt die Realität so geschickt, dass das Opfer beginnt, dem eigenen Urteilsvermögen zu misstrauen.

Bindungsstörung im erwachsenen Alter: die Wurzeln in der Kindheit

Nicht jeder Mensch ist gleichermaßen anfällig für die Entwicklung von Trauma Bonding. Häufig spielt eine Bindungsstörung als Erwachsener eine entscheidende Rolle dabei, warum manche Menschen in destruktiven Beziehungsmustern verharren. Diese Störung hat ihre Ursprünge meist in frühen Kindheitserfahrungen, in denen Liebe und Zuwendung an Bedingungen geknüpft waren oder inkonsistent gewährt wurden. So sind zum Beispiel auch Kinder von Suchtkranken, die häufig Chaos und Willkür erlebt haben, überdurchschnittlich von Bindungsstörungen betroffen.

Kinder, die gelernt haben, dass sie sich verbiegen müssen, um geliebt zu werden, entwickeln ein fragiles Selbstwertgefühl. Als Erwachsene wiederholen sie diese Muster unbewusst und geraten an Partner, die genau dieses Bedürfnis nach bedingungsloser Akzeptanz instrumentalisieren. Eine Bindungsstörung bei Erwachsenen manifestiert sich in der Unfähigkeit, gesunde Beziehungsgrenzen zu setzen und die eigenen Bedürfnisse als legitim anzuerkennen.

Die damit verbundene Angst vor dem Alleinsein ist überwältigend. Mit einer Bindungsstörung empfinden Erwachsene Einsamkeit oft als existenzielle Bedrohung, was nichts anderes als ein Echo der kindlichen Erfahrung ist. Verlassen zu werden wird als das Schlimmste gesehen, was passieren kann. Diese Angst macht sie bereit, nahezu jedes Verhalten zu tolerieren, nur um nicht allein zu sein.

Der Mechanismus des Trauma Bonding

Trauma Bonding funktioniert nach einem perfiden Muster. Gerade weil der Partner sowohl Quelle des Schmerzes als auch des Trostes ist, entsteht eine intensive emotionale Verstrickung. Das Opfer entwickelt eine Art Stockholm-Syndrom. Es identifiziert sich mit dem Aggressor und übernimmt dessen Sichtweise. Diese Identifikation dient zunächst dem psychischen Überleben, wird aber zur Falle, die das Verlassen der Beziehung nahezu unmöglich macht.

Neurologische Prozesse verstärken diesen Effekt zusätzlich. Bei jedem Versöhnungsmoment nach einem Konflikt schüttet das Gehirn Bindungshormone wie Oxytocin aus. Diese biochemische Reaktion verankert die Beziehung tief im limbischen System – jenem Teil des Gehirns, der für Emotionen und Überleben zuständig ist und sich rationalen Argumenten entzieht.

Wege aus der Verstrickung

Das Erkennen von Trauma Bonding mit seinen Anzeichen ist der erste Schritt zur Befreiung davon. Professionelle Unterstützung durch Therapeuten, die auf Traumatherapie spezialisiert sind, hilft dabei, die verinnerlichten Muster zu verstehen und aufzulösen. In der My Way® Klinik arbeiten wir mit Betroffenen daran, einen gesunden Selbstwert aufzubauen und sichere Bindungserfahrungen zu entwickeln. Neben der hochfrequenten Einzeltherapie werden insbesondere die störungsspezifischen Therapiemodule Achtsamkeitstraining, Emotionale Regulation, Selbstwert/Selbstakzeptanz und Zwischenmenschliche Beziehungen empfohlen.

Der Weg aus einer toxischen Beziehung kann ein sehr langer Weg sein. Er erfordert Geduld, Selbstmitgefühl und oft mehrere Anläufe. Doch jeder Schritt hin zu mehr Selbstachtung ist ein Schritt in die richtige Richtung.